Andrea von Treuenfeld: Erben des Holocaust

Welche Auswirkungen hat es für Kinder, wenn die Eltern den Holocaust überlebt haben? Wie sehr haben Flucht, Konzentrationslager und niedergemetzelte Familien den Umgang mit dem eigenen Nachwuchs geprägt? Andreas von Treuenfeld hat prominente “Kinder” befragt und aus den Antworten ein berührendes Buch zusammengestellt.

9783579086705_CoverMeine Mutter ist 1935 geboren. Als meine Großmutter starb, war ich Ende 20. Eigentlich hatte ich noch viel Zeit, mit einer Generation zu reden, die einen, im Fall meiner Großmutter sogar zwei, Weltkriege erlebt hat. Wenn sie denn darüber geredet hätten.

Zwar weiß ich, dass die Frauen zweimal fliehen und alles zurücklassen mussten. Ich weiß auch, dass das Haus bei der Rückkehr niedergebrannt war. Was ich nicht weiß, ist der Fluchtgrund, wenn ich mir das jetzt so richtig überlege.

Es wäre so wichtig, zu reden

Jüdische Wurzeln gibt es in der Familie nicht, dieser Grund scheidet also aus. Wenn meine Mutter sich noch an die Flucht erinnern kann, muss diese auch ziemlich zu Kriegsende stattgefunden haben. Das würde auch erklären, warum meine Großmutter so entsetzt war, als der örtliche Musikverein in den 70ern eine Städtepartnerschaft mit USA einging und der erste Austausch stattfand. Sie wollte es einfach nicht wahrhaben, dass man “die Amerikaner wieder ins Land hole, die alles kaputt geschlagen und sich an den Frauen vergangen hätten”. Ob das der Grund war? Ich weiß es nicht. Es wurde ja nicht darüber gesprochen und die Chancen, dass sich daran noch etwas ändern wird, sind sehr gering.

Was das mit Erben des Holocaust von Andrea von Treuenfeld zu tun hat? Sehr viel. Denn die Schilderungen von Nina Ruge, Ilja, Richter, Marcel Reif, Andrew Ranicki und einigen mehr, hatten so viel Wiedererkennungswert:

  • Die Unfähigkeit, das Erlebte beim Namen zu nennen.
  • Die ständige Verdrängung.
  • Das Unvermögen, Nähe zuzulassen und zu vermitteln.
  • Die Zerrissenheit in den Familien.
  • Die unerbittliche Härte sich selbst gegenüber.

Darunter haben nicht nur die Kinder derer gelitten, die direkte Holocaust-Opfer waren, darunter hat eine ganze Generation gelitten. Eine Erblast, die an die nächste Generation weitergegeben wurde und die meiner Meinung nach nur durch offene Kommunikation getilgt werden kann.

Dieses Buch ist wirklich wichtig

Für mich ist deshalb Erben des Holocaust von Andrea von Treuenfeld ein überaus wichtiges Buch. Und zwar nicht, weil über die Grauen des Krieges noch nie geschrieben worden wäre oder weil Andrea von Treuenfeld spektakuläre Neuigkeiten parat hätte, sondern weil es (mindestens) einer ganzen Generation helfen kann, die eigene Vergangenheit zu verstehen. Sich klar zu machen, dass die Distanziertheit der Eltern nichts mit einem selbst zu tun hatte, sondern Folgen “vererbter” Traumata waren.

Danke an die Interviewpartner, die uns einen Blick in ihre “Altlasten” gestattet haben. Wie schwer das einigen gefallen ist, ist nicht zu überlesen. Aber das ist der einzige Weg, mit der Vergangenheit wirklich abzuschließen.

Andrea von Treuenfeld

Andrea von Treuenfeld hat Publizistik und Germanistik studiert und als Kolumnistin, Korrespondentin und Leitende Redakteurin u.a. bei der Welt am Sonntag gearbeitet. Heute lebt sie in Berlin und schreibt als freie Journalistin Porträts und Biografien.

Buchinfo: Erben des Holocaust von Andrea von Treuenfeld, erschienen bei Gütersloher Verlagshaus, Februar 2017, 224 Seiten, gebunden, 38 s/w Abbildungen, € 19,99, ISBN: 978-3-579-08670-5


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