Wie haben sich die Rechte und Möglichkeiten der Frauen in den letzten etwa 100 Jahre geändert? Freischwimmen von Flurinda Raschèr-Janett gibt einen Einblick in die Entwicklungen in der abgeschiedenen Bergwelt des Engadin.
Flurinda Raschèr-Janett ist Jahrgang 1938 geboren. Die Eltern betreiben ein Fuhrunternehmen und obwohl es Frauen verboten ist, Unternehmen zu gründen, ist es Elisabeth, Flurindas Mutter, die im Unternehmen die Zügel fest in der Hand hält. Mit sicherem Gespür nutzt sie jede Chance, um die Firma voranzubringen. Schließlich macht sie, entgegen aller Konventionen, den Führerschein und übernimmt auch Personentransporte.
Bei dieser starken Mutter sollte man meinen, dass Flurinda alle Wege offen gestanden hätten, aber das Gegenteil war der Fall. So wurde Flurindas Wunsch nach einem Sprachkurs in London rundweg abgelehnt. Für die Tochter gäbe es zu viel Arbeit im Haushalt, der Arbeitsbereich, auf den Elisabeth so gar keine Lust hat.
Hauptsache Mann, Fachkenntnis egal
Durch eine Ausbildung zur Postgehilfin erhofft sich Flurinda eine gewisse Selbstständigkeit. Nach ihrem Abschluss “tingelt” sie zwei Jahre durch die Schweiz, wo sie in unterschiedlichen Filialen eingesetzt wird. Einige Jahre später, Flurinda ist bereits verheiratet, kann sie eine eigene Postfiliale übernehmen, beziehungsweise ihr Mann kann es. Denn Frauen ist es in den 50er Jahren immer noch nicht gestattet, Geschäfte zu führen. So kommt es zu der bizarren Situation, dass ihr Mann den Vertrag und die Abrechnungen unterzeichnen darf, obwohl er keinerlei Ahnung von dieser Arbeit hat, während Flurinda den Laden führt.
Die Liebe zur Musik ist das, was bleibt
Von ihrem Großvater hat Flurinda die Liebe zur Musik geerbt. Voller Begeisterung stürzt sie sich als Sechsjährige in den Klavierunterricht, den ihr ihre Mutter zugesteht. Auch wenn sie nicht das größte Talent ist, bremst das den Eifer des jungen Mädchens nicht.
Fortan spielt die Musik eine große Rolle in ihrem Leben. Flurinda spielt die Orgel in der Kirche, leitet die neu gegründete Musikschule. Immer stärker spürt sie, dass sie für das beschauliche “Strickliesel-Dasein” nicht gemacht ist. Sie leidet zunehmend unter der fehlenden Rückendeckung ihres Mannes, der nicht verstehen kann, dass sie einfach mehr will. Die letzte Konsequenz ist die Trennung.
Spannende Rollenbilder
Flurinda ist nur wenig jünger als meine Mutter. Nicht nur deshalb fand ich es spannend, die Rollenbilder ihrer Familie kennenzulernen. Ich kenne es, wenn die scheinbar Schwächere Person die ist, die im Hintergrund die Fäden zieht und die Zügel fest in der Hand hält. Ein Phänomen, was es vermutlich in allen Ländern und Kulturen gab und gibt, in denen Frauen nicht die gleichen Rechte haben. Der äußere Anschein entspricht nicht unbedingt den innerfamiliären Machtverhältnissen.
Spannend an Flurindas Geschichte fand ich vor allem die Figur der Mutter. Sie war für ihre Zeit absolut selbstständig, schwamm gegen den Strom und hatte auch keine Probleme damit, gegen die “guten Sitten” zu verstoßen. Eigentlich müsste doch gerade sie Verständnis für die Eigenständigkeit ihrer Tochter haben. Doch Flurinda muss kämpfen. Um jede Freiheit, um ihre Liebe zur Musik, um ihre Eigenständigkeit.
Sie flüchtet in die Hilfe und Unterstützung für andere und trennt sich letztlich auch von ihrem Mann. Zur damaligen Zeit im und gerade im “rückständigen” Engadiner Hinterland, nicht selbstverständlich. Wen wundert es, dass Flurinda lange Zeit Angst vor diesem Schritt hat, letztendlich ihr Leben aber doch fest in die eigene Hand nimmt.
Mehr von Flurinda
Freischwimmen von Flurinda Raschèr-Janett war eine kurze Lebensgeschichte einer spannenden Frau. Ich hätte gerne einen tieferen Einblick in ihr Leben erhalten. Sie hat so viel zu erzählen und musste es auf so wenigen Seiten unterbringen. Aber wer weiß, vielleicht legt sie ja bei gutem Feedback noch nach.
Die Besonderheit des Buches: Wer es auf den Kopf stellt, kann Flurindas Geschichte auf Rätoromanisch lesen. Sofern er oder sie dieser Sprache mächtig ist.
|| Ich würde mich übrigens freuen, wenn ihr euch – bei Interesse – dieses Buch im regionalen Buchhandel bei euch vor Ort bestellt. Damit steigen die Chancen, dass wir Buchfans auch in Zukunft noch gelegentlich dort bummeln und stöbern können.||
Flurinda Raschèr-Janett
Flurinda Raschèr-Janett, Jahrgang 1938, engagierte sich in zahlreichen Ämtern. So war sie unter anderem Leiterin einer lokalen Musikschule und Kirchenrätin der Evangelisch-Reformierten Landeskirche Graubünden. Nach einer beruflichen Neuorientierung in den 1990er-Jahren war sie zudem als Erwachsenenbildnerin tätig. Nach ihrer Pensionierung im Jahr 2000 arbeitete sie mehrere Jahre ehrenamtlich für das Kirchenprojekt „Oase“.
Lothar Teckemeyer
Lothar Teckemeyer ist evangelischer Pfarrer i. R. und lebt in Detmold.
Buchinfo: Freischwimmen von Flurinda Raschèr-Jamett, erschienen bei Agentur Alte Post 2015, 01.02.2019, 208 Seiten, Hardcover, € 20,00, ISBN 978-3981752885. Deutsch und Rätoromanisch. Vielen Dank für das Leseexemplar.
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