Luisa Sturm: Riss in der Schüssel

Lehrerin Hanna Uccello war immer die Macherin. Bis ständige Rückenschmerzen sie gnadenlos ausbremsen. Ihrer Familie zuliebe lässt sie sich auf einen Reha-Aufenthalt ein und stößt damit eine fest verschlossene Tür in ihre Vergangenheit weit auf.

Hannah ist mit ihrem Traummann, ihrem Fels in der Brandung verheiratet, hat zwei zuckersüße Kinder und liebt ihren Beruf. Kinder für Geschichte zu begeistern, ist ihr ein Anliegen. Alles könnte also gut sein. Wären da nicht die permanenten Rückenschmerzen, die ihr nachts den Schlaf und tagsüber die Lebenslust rauben. Dazu kommt eine mörderische Migräne. Von Tag zu Tag wird Hannah müder und gereizter. Eine Situation, die Privat- und Berufsleben enorm belasten.

Damit nicht alles Erreichte in Scherben zerfällt, beschließt sie, dem Wunsch ihrer Familie zu folgen und sich auf einen dreiwöchigen Reha-Aufenthalt einzulassen. Vielleicht ist gegen die Rückenschmerzen ja doch ein Kraut gewachsen. Doch der Aufenthalt verläuft ganz anders als erwartet. Schnell wird klar, dass Hannahs Seele mindestens ebenso leidet wie ihr Körper, doch das will sie nicht wahrhaben. Hannah bricht den Aufenthalt gegen den ärztlichen Rat ab. Mit fatalen Folgen. Denn die Tür, die lange Zeit fest verschlossen war, ist geöffnet und lässt sich nicht mehr schließen.

Hannah stürzt in eine tiefe Depression. Jeder ihrer Gedanken dreht sich darum, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Die Ursache dafür liegt tief vergraben in ihrer Kindheit. Der Zeit, als ein merkwürdiger “Onkel” sie regelmäßig von der Schule abholte und seltsame Dinge mit ihr machte. Dinge, über die sie nicht reden durfte, egal mit wem. Sonst würde der “Onkel” sie in einen Koffer sperren und lebendig im Wald vergraben.

Sexualisierte Gewalt zerbricht Kinderseelen

Riss in der Schüssel von Luisa Sturm ist ein Paradebeispiel, wie sich die sexualisierte Gewalt in Kindertagen auf das Leben erwachsener Opfer auswirkt. Was aus den unterschiedlichsten Gründen verdrängt wurde, bricht sich im Erwachsenenalter irgendwann Bahn. Sehr häufig durch die unterschiedlichsten körperlichen Probleme, weil das so viel leichter zu ertragen ist, als das Eingeständnis, psychische Hilfe zu brauchen.

Für permanente Rückenschmerzen bekommen wir mitfühlende Blicke und Kommentare. Für “Ich bin schwer depressiv und suizidal” irritierte und verunsicherte Blicke und Kommentare. “Dann geh doch mal raus!” oder “Das geht schon wieder vorbei!” treiben uns in dieser Situation zur Verzweiflung. Könnte man das, würde man es tun. Wir wissen, dass es nicht vorbeigehen wird, sonst würden wir ja alles ändern. Depressiv zu sein, macht keinen Spaß. Niemand leidet freiwillig, sondern rennt von Facharzt zu Fachärztin. Vergebens! Weil die Psyche dafür sorgt, dass wir aus dem Hamsterrad aussteigen und uns um unsere Seele kümmern. Und oh Wunder, wenn wir unsere Seele heilen, sind plötzlich die körperlichen Probleme verschwunden.

So geht es auch Hannah Uccello in Riss in der Schüssel vom Luisa Sturm. Kaum beschäftigt sie sich ernsthaft mit ihren verdrängten Erinnerungen, sind die mörderischen Rückenschmerzen, die sie jahrelang ausgebremst haben, auf dem Rückmarsch.

Und genau wie Hannah Uccello sollten wir alle verinnerlichen, dass wir nicht immer und überall stark sein müssen. Dass wir über unsere Schwächen und Probleme reden können, auch über die psychischen. Über das gebrochene Bein reden wir ja auch ganz selbstverständlich. Wer sich dazu überwinden kann, wird verblüfft sein, auf wie viel Verständnis er oder sie stoßen wird. Denn die Dunkelziffer bei psychischen Erkrankung wie zum Beispiel einer Depression, ist so unendlich viel höher, als wir vermuten.

Insofern ist Riss in der Schüssel von Luisa Sturm ein weiteres Buch, das depressiven Menschen Mut macht, sich ihren Problemen zu stellen. Davon kann es nicht genug geben. Wenn sie nur einem einzigen Menschen helfen, nicht erst Jahre verstreichen zu lassen, bis das eigentliche Problem, die verwundete Seele, therapiert wird, ist jedes einzelne davon unendlich wertvoll.

Hier gibt es Hilfe – für Opfer und für Täter:innen

Hilfsangebote gibt es inzwischen viele. Luisa Sturm hat einige davon in ihrem Buch aufgeführt und ich möchte sie auch in meiner Rezension übernehmen:

  • Hilfetelefon Sexueller Missbrauch: 0800 22 55 530 (kostenlos und anonym)
  • Nummer gegen Kummer: 11 61 11 (kostenlos und anonym)
  • Für Eltern: 0800 111 0 550
  • Gebündelte Informationen zu den Beratungsangeboten auf http://www.kein-kind-alleine-lassen.de

Hilfsangebote für Mensch mit pädophiler Neigung beim Projekt “Kein Täter werden” der Berliner Charité. Entweder über die Website oder telefonisch unter 030 450 529 450. Es gilt die ärztliche Schweigepflicht.

Von Gendern und Framing

So wichtig Bücher über Depression, Suizidalität und sonstige psychische Erkrankungen auch sind, dieses hier hätte ich beinahe nach wenigen Seiten auf die Seite gelegt. Ich werde nie verstehen, wieso Frauen, die Opfer sexualisierter Gewalt wurden, gendern als “Wahnsinn” empfinden können. Es geht nicht darum, alles und jedes 100 Prozent politisch korrekt zu formulieren, aber als Frau von sich selbst als Lehrerin statt als Lehrer zu sprechen, macht Frauen sichtbarer und damit stärker. Zum Glück hat sich hier schon viel geändert in den letzten Monaten. Egal, ob das den Gegner:nnen schmeckt oder nicht. Generell habe ich in meinen Umfeld häufig erlebt, dass Frauen mit Depression gerne über Geschlechtsgenossinnen herziehen und behaupten, mit Männern mehr anfangen zu können. Warum das so ist? Mit dieser Frage habe ich mich wissenschaftlich nicht auseinandergesetzt. Ich denke, es ist ein Überbleibsel der männlichen Dominanz, der diese Frauen ausgesetzt waren. Das Rollenverhalten ist ihnen vertraut, sie fühlen sich sicherer.

An mehreren Stellen wurde auch gegen Menschen mit Übergewicht geschossen. Auch das ein Phänomen, das mir bei depressiven oder sehr unsicheren Menschen immer wieder begegnet ist. Ist man selbst Opfer, sucht man sich gerne “andere Opfer”, die vermeintlich übler dran sind und fühlt sich so selbst aufgewertet. Meine Erfahrung damit ist: Sobald man wieder in sich selbst ruht, braucht man solche “Krücken” nicht mehr, um sich selbst wert zu sein.

Und wenn ich schon am Meckern bin: Yoga als esoterischen Quatsch zu bezeichnen, ist Quatsch. 🙂 Aber auch ein Zeichen der persönlichen Unsicherheit der Protagonistin von Riss in der Schüssel. Was man selbst nicht versteht und was potenziell verunsichernd sein könnte, muss abgewertet werden.

Luisa Sturm

Luisa Sturm wurde mitten in der Nacht kurz nach Weihnachten geboren, damals in den wilden 70ern, als die Musik cool und die Klamotten schräg waren.

Die meiste Zeit ihres jungen Lebens hat sie im Wasser verbracht. Das Schwimmen und die Wettkämpfe bestimmten ihre Tagesabläufe.

Während ihres Studiums hat sie angefangen, Artikel für die Unizeitung zu schreiben und nach ihrem Examen zunächst eine journalistische Ausbildung gemacht, ehe sie sich entschloss, Lehrerin zu werden und Teenagern den Absolutismus, die Römer und das Past Perfect näher zu bringen. Doch die Lust am Schreiben hat sie nie losgelassen.

Buchinfo: Riss in der Schüssel von Luisa Sturm, herausgegeben von Dezemberkindverlag, 29. April 2022, 281 Seiten, Taschenbuch, € 9,99, ISBN 9798809055475. Danke für das Leseexemplar.


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