Ende des 19. Jahrhunderts in London. In gut situierten Familien werden unangenehme Dinge von den Frauen fern gehalten. Sie sollen sich den schönen Seiten des Lebens widmen und sich auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereiten. Eine Situation, mit der sich Charlotte nicht abfinden will.

Rund um die Cater Street in London treibt ein brutaler Serienmörder sein Unwesen. Seine Opfer: junge Mädchen und Frauen, die er hinterrücks erdrosselt und anschließend kaltblütig verstümmelt. Das alles auf offener Straße.
Während man dem ersten Opfer noch unsittliches Verhalten, also eigenes Verschulden unterstellt, wird schnell klar, dass das ein Trugschluss ist. Der Mörder tötet scheinbar wahllos durch alle Gesellschaftsschichten, vom Dienstmädchen bis zur jungen Ehefrau aus gutem Haus. Einige der Opfer waren lebenslustiger, im prüden England um die Jahrtausendwende ein Unding. Andere führten einen – in den Augen der Gesellschaft- völlig untadeligen Lebenswandel.
Anständige Familien haben keine Polizei im Haus
Ausgerechnet an einem Abend, an dem Charlotte mit der Dienerschaft alleine zuhause ist, verschwindet das Dienstmädchen spurlos. Längst müsste das Mädchen von seinem Ausgang zurück sein. Charlotte sieht keine andere Lösung, als die Polizei zu alarmieren, auch wenn sie weiß, dass der Rest ihrer Familie dafür kein Verständnis haben wird. Anständige Familien haben schließlich keine Polizei im Haus. Was soll die Nachbarschaft denken.
Tatsächlich findet die Polizei das Mädchen schon kurze Zeit später. Erdrosselt, wie die anderen Opfer vor ihr. Inspektor Pitt, der mit den Ermittlungen in der Mordserie betraut ist, stellt unangenehme Fragen und zeigt sich ungewohnt respektlos. Schließlich steht er gesellschaftlich weit unter der Familie. Doch genau diese Respektlosigkeit und Beharrlichkeit, seine schonungslose Offenheit sind es, die Charlotte für ihn einnehmen. Und tatsächlich ergänzen sich die Wahrnehmungen der beiden perfekt. Gemeinsam gelingt es ihnen, die Morde zu stoppen.
Und nicht nur das. Beide fühlen sich magisch voneinander angezogen, auch wenn sie wissen, dass eine Verbindung zwischen ihnen im London des 19. Jahrhunderts eigentlich undenkbar ist.
Wer ermordet wird, ist selbst schuld
Anne Perrys Der Würger von der Cater Street ist eine sehr gelungene Kombination aus Thriller und Sittengemälde. Beim Lesen kam mir immer wieder leicht die Galle hoch, wenn es um das Rollenbild der Frau im ausgehenden 19 Jahrhundert ging. Einer Zeit, zu der Frauen unselbstständiger Zierrat oder – wenn sie aus armen Verhältnissen kamen – rechtlose Arbeitskräfte waren. Und natürlich konnte nur ein liederlicher Lebenswandel dafür verantwortlich sein, wenn man als Frau umgebracht wurde. Den führen natürlich arme Frauen eher als welche aus “gutem Haus”. Manch ein Kopf befindet sich ja heute noch in den 1800er Jahren, wenn es zum Beispiel um Vergewaltigung geht, die Frauen natürlich durch ihr Verhalten und ihre Kleidung provoziert hat. Glücklicherweise sterben aber diese Gestrigen zunehmend aus.
Sehr berührend fand ich auch das Werben von Inspektor Pitt um die für ihn eigentlich unerreichbare Charlotte. Charlotte, die durch ihren scharfen Verstand und ihre klaren Aussagen in der “guten Gesellschaft” immer wieder aneckt. Was gibt es schöneres, als den Menschen zu finden, der einen für genau die Eigenschaften schätzt und liebt, die andere Menschen an einem bemängeln. Gerade dann, wenn diese Herabsetzungen innerhalb der Familie passieren, sind sie umso verletzender. Das Umfeld zu finden, das einen nicht trotz, sondern wegen dieser angeblichen “Mängel” schätzt, heilt viele Verletzungen und sorgt dafür, sein ganzes Potenzial ausleben zu können. Insofern bin ich gespannt auf die weitere Zusammenarbeit von Charlotte und Inspektor Pitt. Offensichtlich ergänzen sie sich in ihrer Denkweise perfekt.
Auch wenn ich zwischendurch dachte “Da könnte jetzt aber etwas mehr Tempo drin sein” hat mir Der Würger von der Cater Street sehr gut gefallen. Ein intelligenter Thriller, der beim Lesen vergangene Zeiten zurück bringt. Überzeugt euch selbst.
Anne Perry
Anne Perry, 1938 in London als Juliet Marion Hulme geboren, verließ wegen einer drohenden Tuberkuloseerkrankung bereits als Kind England und lebte mit ihrer Familie zeitweise in Neuseeland und auf den Bahamas. 1959 kehrte sie nach England zurück und nahm den Namen ihres Stiefvaters an.
Einige Jahre verbrachte Anne Perry in Kalifornien und erst im Alter von 39 Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Roman. 1979 erzielte sie ihren internationalen Durchbruch als Schriftstellerin. Anne Perry lebt heute zurückgezogen in den schottischen Highlands.
Buchinfo: Der Würger von der Cater Street von Anne Perry, erschienen bei Adrian Verlag, 25.04.2022, 304 Klappenbroschur, € 12,95, ISBN 978-3-9858503-9-6. Übersetzt von Michael Tondorf. Danke für das Leseexemplar.
Üblicherweise verlinke ich meine Rezensionen direkt zum Buch auf der Verlagsseite, damit Leserinnen und Leser bei Interesse gleich beim Verlag bestellen können, sofern es einen Shop gibt. Da das bei Der Würger von der Cater Street nicht möglich ist, ist natürlich Genialokal eine gute Alternative, die den lokalen Buchhandel unterstützt.
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