Alejandro wühlt sich tagtäglich durch die Abgründe des Internets. Im Accord. Als seine Kollegin Maria Selbstmord begeht, will er verstehen, was sie dazu bewogen hat. Was ihn erwartet, sind Abgründe, wie er sie nie erwartet hätte.
Ignorieren. Ignorieren. Löschen. Ignorieren. Diese beiden Wörter bestimmen Alejandros Arbeit. Für eine US-Firma sichtet er in Frigiliana, seinem idyllischen, andalusischen Heimatdorf den Abschaum der Internetkommunikation. Pornografie, Hass, Gewalt. Im Sekundentakt muss er entscheiden, ob die Aussagen von der Meinungsfreiheit gedeckt sind oder nicht. Die Anweisung von “oben” lautet: Nicht zu großzügig löschen!
Immer öfter zweifelt er am Sinn seiner Arbeit. Als dann auch noch Bilder auftauchen, die direkt mit seiner Vergangenheit zu tun haben, wachsen die Zweifel. Irgendetwas stimmt mit dem Unternehmen nicht. Alejandro sucht nach Antworten und wird prompt zur Rede gestellt. Die Arbeit zu hinterfragen, ist nicht erwünscht. Das wird ihm sehr unsanft sehr klar gemacht, was seine Neugier nur noch mehr anstachelt. Was ist so geheim, dass das Unternehmen mit allen Mitteln versucht, es unter dem Deckel zu halten?
Realität und Fiktion perfekt verwoben
Genau genommen ist Alejandros Arbeit seit gut 20 Jahren auch meine. Ich bin mit Leib und Seele Community/Social Media Managerin/Moderatorin. Zum Glück schiebt mir aber kein Algorithmus nur den digitalen Gilftmüll zu. Wobei es bei manchen Themen dafür keine künstliche Intelligenz braucht, da ist alles Gibt. Intelligenz würde aber helfen.
Doch zurück zum Buch. Ich weiß, dass es diese Klickfabriken gibt und dass wirklich Menschen sich manuell durch den Bodensatz von Social Media und Foren wühlen müssen. Bevorzugt in finanziell schwachen Ländern zu lächerlichen Stundensätzen. Sie werden ausgenutzt, damit wir uns nicht mit diesen hässlichen Dingen konfrontieren müssen. Pervers genug. Eigentlich.
Was ist wirklich wahr im Netz?
Im Lemming-Projekt geht das alles aber noch eine Stufe weiter, weil private Verflechtungen mitspielen. Ganz offensichtlich zieht im Hintergrund jemand die Strippen, der Alejandro kennt und eine ganz eigene Agenda verfolgt. Die Steilvorlage, um die Hintergründen von Social Media zu erklären. Klickfabriken, die Meinungen hochprofessionell und perfekt geplant manipulieren. Videos mit hochwertig aufgemachten Fake-News, die von organisierten Gruppen im Sinne der Auftraggeber:innen kommentiert und gehypt werden.
Ich kann jeder und jedem nur empfehlen, sich mit dieser Thematik zu beschäftigen. Sie wird in den nächsten Jahren zunehmend perfektioniert unser Leben bestimmen. Das Lemming-Projekt ist ein spannender und unterhaltsamer Ansatz, sich diesem Thema zu nähern. Lest es!
Wolfgang Kaes
Wolfgang Kaes, 1958 in der Eifel geboren, finanzierte sein Studium der Politikwissenschaft und Kulturanthropologie als Waldarbeiter, Hilfsarbeiter im Straßenbau, Lastwagenfahrer, Taxifahrer und schließlich als Polizeireporter. Er schrieb Reportagen für den Stern, die Zeit und andere. 2012 kürte ihn das Medium Magazin zum «Reporter des Jahres», 2013 erhielt er den Henri-Nannen-Preis in der Kategorie «Investigative Recherche». Seit 2003 verarbeitet er seine journalistischen Recherchen auch zu Romanen. Kaes war viele Jahre Chefreporter des Bonner General-Anzeigers, bevor er 2020 entschied, sich künftig ganz dem Bücherschreiben zu widmen.
Buchinfo: Das Lemming-Projekt von Wolfgang Kaes, erschienen bei rowohlt polaris, erschienen 17. August 2021, 432 Seiten, Klappenbroschur, € 16,00, ISBN: 978-3-499-00610-4. Danke für das Leseexemplar.
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