In Deutschland leiden etwa 1,5 Millionen Menschen an Demenz. Tendenz steigend. Die Betreuung überfordert viele Angehörige. Deshalb müssen wir uns auf Dauer fragen: Wie können wir die Würde der Kranken wahren, ohne uns selbst dabei zu vergessen?

Demenz schleicht sich ganz leise in unser Leben. Meist sind es die Betroffenen selbst, denen auffällt, dass irgendwas nicht stimmt. Sie können sich an Unterhaltungen nicht mehr erinnern. Der Name der Nachbarin ist plötzlich aus dem Kopf verschwunden.
Dann fällt auch den Angehörigen auf, dass etwas nicht stimmt. Absprachen werden nicht eingehalten. Der Vater, die Schwester oder die Partnerin erscheinen in Hausschuhen zur Verabredung und reagieren sehr unwirsch, wenn man sie darauf hinweist.
Irgendwann lassen sich Vergesslichkeit und Verwirrung nicht mehr schönreden, der Gang zum Arzt oder zur Ärztin ist unausweichlich. Und auch wenn die Diagnose im ersten Moment erleichtert – endlich hat man die Erklärung für die ganzen Streitigkeiten der letzten Monate – beginnt jetzt die eigentlich belastende Zeit für alle. Denn jetzt ist klar: Das wird nicht wieder so, wie es mal war. Es gibt nur eine Entwicklung, die hin zur Verschlechterung. Mit nicht vorhersehbarer Geschwindigkeit.
Herzlos ist nur, sich selbst zu überfordern
Sich rechtzeitig über Hilfsangebote zu informieren und ein tragfähiges Netzwerk für die Erkrankten zu knüpfen, ist das, was jetzt Vorrang hat. So verantwortlich man sich als Angehörige oder Angehöriger, als Freundin oder Partner fühlt, mittelfristig werden viele die Betreuung nicht mehr alleine stemmen können.
Dement, aber nicht vergessen von Michael Schmieder ist ein Plädoyer für genau diese Situation. Schmieder macht Mut, sich Hilfe zu suchen. Und er erklärt an Beispielen aus seinem reichen Erfahrungsschatz, warum das nicht nur für Betreuende, sondern auch für Erkrankte ein großer Mehrwert sein kann.
Der Mensch ist kein Baum, der für immer an einem Ort verwurzelt ist. Wenn wir spüren, am falschen Ort zu sein, können und sollten wir weitergehen.
Gleichzeitig macht er Mut. Verantwortung mit erfahrenen Helfern und Helferinnen zu teilen, ist kein Desinteresse oder gar Ausdruck von Lieblosigkeit. Es ist ein Weg, geliebten Menschen ihre Würde zu bewahren, wenn sie sich auf dem Weg in die Demenz immer mehr selbst verlieren. Denn die Überforderung führt unweigerlich zu Aggression und Ungeduld und macht die Situation damit für alle Beteiligten schlimmer. Erkrankte fühlen sich schlecht, weil sie etwas “falsch” gemacht haben. Betreuende fühlen sich gestresst, weil jede Alltagssituation unberechenbar wird.
Deshalb: Seht euch rechtzeitig nach Hilfe um, wenn ihr mit demenziellen Erkrankungen konfrontiert seid. Baut euch ein Netzwerk auf, das eure erkrankten Angehörigen wertschätzt, aber auch um ihre gesundheitliche Situation weiß. Und habt keine Hemmungen, professionelle Hilfe anzunehmen. Gemeinsam lässt sich die komplexe Herausforderung leichter tragen.
Es geht nicht nur um die Erkrankten
Im Gegensatz zu Dement, aber nicht bescheuert von Michael Schmieder steht in Dement, aber nicht vergessen nicht die optimale stationäre Versorgung an Demenz erkrankter Menschen im Vordergrund, sondern die private Betreuung. Schmieder macht Mut, die Verantwortung zu teilen und thematisiert damit, was viel zu oft verschwiegen wird: Dass die Betreuung dementer Menschen Freunde und Angehörige schlichtweg überfordern kann. Und dass das normal ist. Niemand muss sich schämen, in so einer Situation Unterstützung zu suchen. Ganz im Gegenteil.
Michael Schmieder
Michael Schmieder, geboren 1955, leitete bis 2015 das Heim Sonnweid bei Zürich, das als eine der besten Demenz-Einrichtungen weltweit gilt. Er ist ausgebildeter Pfleger, hat einen Master in Ethik und hält regemäßig hält Vorträge über Demenz. Schmieder wurde von der Paradies-Stiftung für sein Lebenswerk geehrt. Die Alzheimervereinigung Kanton Zürich zeichnete Michael Schmieder mit dem Fokuspreis aus.
Gemeinsam mit Uschi Entenmann und Erdmann Wingert von Zeitenspiegel Reportagen in Weinstadt.
Buchinfo: Dement, aber nicht vergessen von Michael Schmieder, Uschi Entenmann und Erdmann Wingert, erschienen bei Ullstein extra, 01. September 2022, 240 Seiten, Klappenbroschur, € 22,99, ISBN 978-3-86493-180-2. Danke für das Leseexemplar.
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