Kruso: Eine sehr intime Sicht auf den Mauerfall 1989

Sommer 1989 an der Ostsee. Edgar Bendler ist seinem Leben entflohen und im Klausner, einer Kneipe auf Hiddensee gestrandet. Als eingeschworenes Team erlebt er die Zeit des großen Umbruchs in Deutschland gemeinsam mit seinen Kollegen und erfasst erst spät die wahre Funktion des Ausfluglokals.

Kruso, Lutz Seiler, SuhrkampNach dem Verlust seiner Freundin sieht Edgar Bendler keinen Sinn mehr in seinem Leben. Sein Studium, anfangs noch willkommene Ablenkung, ist längst zur Droge geworden. Eine Droge, die so von ihm Besitz ergreift, dass er eines Tages alle seine Aufzeichnungen verbrennt. Edgar räumt die Wohnung ordentlich auf, schraubt die Sicherungen aus den Fassungen, packt eine Tasche und geht. In der Hand eine alte Landkarte der Ostseeküste, die er beim Aufräumen gefunden hat.

Der Klausner – Herberge für gestrandete Seelen

Der Weg führt ihn nach Hiddensee, der Ostsee-Insel westlich von Rügen. Eine Enklave, die für Aussteiger und Andersdenkende längst zum Zufluchtsort geworden ist. Aller Kontrollen der Stasi zum Trotz.

Ohne es wirklich zu begreifen, wird Edgar, jetzt Ed, zum Fluchthelfer für zahllose Abtrünnige, die in der DDR keine Zukunft mehr sehen. Menschen, die nicht ahnen, dass die Grenzen kurz vor der Öffnung stehen. Menschen, die ihr Leben in letzter Minute völlig überflüssig aufs Spiel setzen.

Lutz Seiler hat mich von der ersten Seite an gepackt

Ich habe einen Sprache-Fetisch! In Büchern, die stilistisch gut geschrieben sind, kann ich versinken. Kruso hatte diese Wirkung von der ersten Seite an.

Ed hat mich mitgenommen auf seine Reise. Ich habe mit ihm gelitten und gebangt, seine Zerrissenheit gespürt. Mich hat es vor dem fettigen Spülwasser und seinen Hinterlassenschaften im Abfluss geekelt.

Ich habe mich über die Freundschaft zu Kruso gefreut, so sehr er mich auch verwirrt hat. Die Clique im Klausner war ein bisschen auch meine Clique. Ihr Zerfall hat mich getroffen.

Erst zum Ende hin, als Ed und Kruso einsam und im Fieberwahn auf der Insel und im Klausner zurück bleiben, ging die Faszination verloren, so als wäre auch ich in der Umbruchsitutation verloren gegangen. Das tut aber meiner generellen Aussage keinen Abbruch:

Kruso ist ein Buch für Genießer!

Das verdankt es nicht nur seiner sprachlichen Brillanz, sondern auch der sauberen Recherche.

 

Ich war mir zum Beispiel nicht bewusst, dass zahllose Menschen von Hiddensee aus ihr Heil in der Republikflucht gesucht haben. Ein Traum, den viele von ihnen mit dem Leben bezahlt haben. Teilweise hat die See ihre Leichen nicht wieder her gegeben. Teilweise haben sich die dänischen Behörden der anonymen Opfer erbarmt und ihre Fundorte an der Küste katalogisiert. Einigen davon konnte Lutz Seiler durch seine Recherchen ihren Namen zurück geben.

Lutz Seiler

Lutz Seiler wurde 1963 in Gera/Thüringen geboren, heute lebt er in Wilhelmshorst bei Berlin und in Stockholm. Nach einer Lehre als Baufacharbeiter arbeitete er als Zimmermann und Maurer. 1990 schloß er ein Studium der Germanistik ab, seit 1997 leitet er das Literaturprogramm im Peter-Huchel-Haus.

Er unternahm Reisen nach Zentralasien, Osteuropa und war Writer in Residence in der Villa Aurora in Los Angeles sowie Stipendiat der Villa Massimo in Rom.
Für sein Werk erhielt er mehrere Preise, darunter den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Bremer Literaturpreis, den Fontane-Preis und den Uwe-Johnson-Preis.

Kruso wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, z.B. dem Deutschen Buchpreis 2014.

Buchinfo: Kruso von Lutz Seiler, erschienen bei Suhrkamp, 02.09.2014, 484 Seiten, gebunden, € 22,95, ISBN: 978-3-518-42447-6. Danke für die Bereitstellung des Leseexemplares.


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