Bis zum Mauerfall und noch Jahre danach war Berlin einer der Spionage-Hotspots weltweit. Nicht selten war das Motiv der Spion:innen der brennende Wunsch nach Rache. Rache dafür, was die jeweilige Nation ihnen selbst oder ihren Familien angetan hat. So wie bei der jungen Ria.

Ria war 10 Jahre alt, die Staatssicherheit ihre Eltern abholte und sie von ihrer kleinen Schwester trennte. Beide Mädchen kamen in Pflegefamilien, der Kontakt wurde strikt unterbunden. Ria wuchs bei einem regierungstreuen Akademikerpaar auf. Auch wenn es ihr wirtschaftlich gut ging und die Adoptiveltern alles taten, um sie zu fördern, war das Erlebnis zu prägend, als dass Ria je verzeihen konnte.
Von ihrer neuen Stelle als Sekretärin im Ministerium für Außenhandel der DDR erhofft sie sich Zugriff auf die alten Akten ihrer Familie. Vielleicht kann sie so den Wohnort ihrer Schwester in Erfahrung bringen. Doch es kommt anders. Der Bundesnachrichtendienst will sie als Informantin anheuern. Für sie ist Ria die perfekte Spionin. Getrieben vom Hass auf die DDR-Regierung, die ihr ihre Familie und eine glückliche und unbekümmerte Jugend genommen hat. Aber der persönliche Rachefeldzug entwickelt sich beinahe zum nationalen Drama.
Rachedurst ist ein gefährlicher Ratgeber
Meine Entscheidung für meine damaligen Studienort war noch von der Mauer geprägt. Als geborene Saarländerin, sowohl nach Frankreich als auch nach Luxemburg war es nur ein Katzensprung, war die Mauer das Ausschlusskriterium für ein Studium in Berlin. Dass diese Mauer nicht mal ein Jahr später Geschichte sein würde, konnte ich nicht ahnen.
Noch weniger konnte ich mir vorstellen, zu dem Zeitpunkt in Berlin zu leben, als diese Mauer errichtet wurde. Es ist eine Sache, Familienbande nicht pflegen zu wollen. Aber es ist eine ganz andere, das nicht zu dürfen. Weil ein Regime es seinem Volk verbietet und dieses Verbot ohne Rücksicht auf Verluste mit aller Härte umsetzt.
Zahllosen Menschen wurde dadurch unendlicher Schmerz zugefügt. Und so der Keim für eine spätere Spionagetätigkeit gelegt. Warum soll man einem Staat, der einem selbst so schlecht mitgespielt hat, nicht ebenfalls Steine in den Weg legen? Geheimnisse an den Staatsfeind zu verraten, scheint ein mehr als probates Mittel. Auch dann, wenn man dadurch das eigene Leben in Gefahr bringt.
Die fremde Spionin von Titus Müller ist ein bewegendes und gleichzeitig spannendes Stück deutscher Zeitgeschichte. Ich habe das Buch gerne gelesen.
Titus Müller
Titus Müller, geboren 1977, studierte Literatur, Mittelalterliche Geschichte, Publizistik und Kommunikationswissenschaften. Mit 21 Jahren gründete er die Literaturzeitschrift Federwelt, ein Jahr später veröffentlichte er seinen ersten historischen Roman, Der Kalligraph des Bischofs. Titus Müller ist Mitglied des PEN-Club und wurde u.a. mit dem C. S.-Lewis-Preis und dem Sir-Walter-Scott-Preis ausgezeichnet. Für den Roman Nachtauge(Blessing, 2013) wurde Titus Müller 2014 im Rahmen einer Histo-Couch-Umfrage zum Histo-König des Jahres gewählt. Zuletzt erschienen die Romane Berlin Feuerland und Der Tag X.
Buchinfo: Die fremde Spionin von Titus Müller, erschienen bei Heyne, 14. Juni 2021, 400 Seiten, Klappenbroschur, ISBN: 978-3-453-44125-5, € 16,00. Danke für das Leseexemplar.
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