Geflüchtete, Corona, Ukrainekrieg, Atomkraft, Klimawandel: Die letzten Jahre waren nichts für schwache Nerven, aber ein gefundenes Fressen für diejenigen, die in unserer Demokratie eine Gefahr für ihre eigene Macht sehen. Julia Ebner hat sich tief in die entsprechenden Kreise eingegraben und alarmierende Netzwerke aufgedeckt.

Seit Jahren wühle ich mich beruflich durch die Kommentarspalten auf sozialen Medien, seit etwa 2015 fast ausschließlich im politischen Umfeld. Von Jahr zu Jahr wurde der Ton rauer. Immer schneller hat sich jahrzehntelang Unsagbares wieder ins Sagbare verschoben. Weil Politik und Medien jedes hingeworfene Stöckchen eifrig aufgesammelt und weitergetragen haben. Schließlich ging doch nichts über eine gute Schlagzeile oder Sendezeit in Talkshows und Nachrichtenformaten.
Wie frisch geklont
Irgendwann hatte ich den Eindruck, dass sich unabhängig vom Thema immer die gleichen User zu Wort melden und ihren destruktiven, unsachlichen Müll und ihre hahnebüchenen Falschinformationen absondern. Oft gleich im Rudeln mit fast wortgleichen Kommentaren.
Wurde ihnen sachlich und mit Links zu den tatsächlichen Hintergründen widersprochen, fiel das Rudel über diese sachlich kommentierenden User:innen her und versuchten, sie mit Beleidigungen mundtot zu machen. Schnell fanden wir auf Facebook Gruppen, in denen genau dieses Verhalten abgestimmt wurde: “Minister:in XY hat dies und jenes bei Zeitung ABC auf Facebook, Twitter, Instagram gepostet. Das sind Fake-News. So “blablabla” ist es wirklich. Lasst das nicht durchgehen. Wir müssen da alle widersprechen. Die Politik belügt und betrügt uns hinten und vorner.” Und dann schwärmten die treuen Gefolgsleute aus und verbreiteten das Wort ihrer Herren und Meisterinnen. Kritiklos. Leichtgläubig. Durch ihren persönlichen Frust motiviert. Von unserer Gesellschaft enttäuscht.
[Übrigens waren diejenigen, die sich zur Gegenrede zusammengeschlossen haben, nicht anders organisiert. Wieso auch? Das ist ja einer der großen Vorteile, den Social Media bietet. Kostenlos.]
Bitte springt nicht über jedes Stöckchen
Immer wieder haben wir das Thema angesprochen. Darum gebeten, keine Headlines zu wählen, die uns innerhalb kürzester Zeit zwar Tausende Kommentare und damit vermeintliche Reichweite einbrachten, die aber letztlich vor allem eines bewirkten: spaltende, hetzerische und menschenverachtende Narrative zu verbreiten.
Inzwischen wissen wir, dass das alles von langer Hand vorbereitet und genau so geplant war. Und von einschlägigen Medien immer noch genau so genutzt wird. Stichwort Erregungsökonomie.
Was meine Wahrnehmung mit Julia Ebner zu tun hat
Dass mich meine Wahrnehmung aus den letzten Jahren nicht getäuscht hat, bestätigen mir Julia Ebners Forschungsergebnisse, die sie in ihrem neuen Buch Massenradikalisierung (2023) und dem Vorgänger Radikalisierungsmaschinen (2019) veröffentlicht hat.
Julia Ebner ist Extremismusforscherin und berät unter anderem UN, NATO und die Weltbank. Undercover hat sie in den letzten Jahren die unterschiedlichsten extremistischen Communitys infiltriert. Analog und digital und in mehreren europäischen Ländern.
Was sie in ihren Büchern präsentiert, ist nicht leicht zu verdauen, sollte aber Pflichtlektüre für alle sein, die in Politik und Medien aktiv sind. Und erst recht für diejenigen, die arglos den Rattenfängern der extremen Ränder hinterherlaufen. Keine Angst, beide Bücher sind sehr gut lesbar und mit jeweils rund 30 Seiten Quellenangaben im Anhang sehr gut belegt. Wer sich also in einzelne Themen tiefer einlesen möchte, kann das problemlos tun. Muss es aber nicht.
Noch nie waren extremistische Akteure international so vernetzt.
Dass die diversen Interessengruppen – Rassist:innen, Antifeminist:innen, Verschwörungsgläubige, Trumpist:innen, Coronaleugner:innen, Klimawandelleugner:innen, Grünenhasser:innen – auf Führungsebene längst zusammenarbeiten und ihre Klientel frühzeitig auf neue Themen einschwören, wenn die bisherigen an Fahrt verlieren, weiß ich aus meiner eigenen Arbeit. Wie professionell diese Zusammenarbeit funktioniert, habe ich unterschätzt.

Längst ist nämlich aus den unterschiedlichen Strömungen ein komplexer Organismus geworden, der von solventen, straff organisierten und perfekt planenden Köpfen nach Belieben gesteuert wird. Und technisch mit weitem Vorsprung vor den Regierungsorganisationen.
Hier haben russische Desinformationsprofis – Julia Ebner bezeichnet Putin als Meister der Desinformation – schon seit vielen Jahren die Finger und sehr viel Geld im Spiel. Putin signalisiert den globalen Rechten seit Jahren, dass er ihren Kampf kämpft. Damit wurde er längst zum Helden weißer Nationalisten, antidemokratischer Verschwörungstheoretiker und christlicher Fundamentalisten. Gemeinsam mit US-amerikanischen Verschwörungs- und FakeNews-Predigern aus dem QAnon-, Alt-Right- und MAGA- (Make America Great Again) Umfeld ist es gelungen, diverse kleine, zuvor autonom agierende extremistische Gruppen, kurz zu schließen.
In Europa haben sich die extremen rechten Ränder, Rassisten und neue Organisationen wie zum Beispiel die Querdenker- oder Reichsbürger-Szene angeschlossen. Und in Deutschland stoßen inzwischen auch die C-Parteien in die gleiche Richtung. Ungeniert und wie ein trotziges kleines Kind, das beim Spiel (der Wahl) verloren hat, bedienen sie sich der Desinformationsmechanismen, die Trump in den USA hoffähig gemacht hat. Für mich die peinlichste Opposition ever. Und die gefährlichste, was den sozialen Frieden im Land angeht.
Ob sie wissen, wie stark sie manipuliert werden?
Vielen der Anhängerinnen und Anhänger wird diese Vereinnahmung vermutlich nicht bewusst sein. Sie bejubeln die Unterstützung und die Reichweite, die sie plötzlich gewonnen haben beziehungsweise noch gewinnen und fühlen sich in ihrer Meinung über den Staat, ihre Ausländerfeindlichkeit, ihren Antifeminismus, den Klimawandel bestärkt.

Möglich ist das, weil die Köpfe dieses neuen Organismus’ das psychologische Phänomen nutzen, dass Menschen, die an eine Verschwörungserzählung glauben, leicht für weitere zugänglich sind. Und Menschen, die sich wegen einer Sache vom Staat um ihr Recht betrogen fühlen, gerne weitere Gründe sehen, wieso sie Der Politik nicht vertrauen dürfen.
Können wir die Entwicklung stoppen?
Hilfreich wäre es, wenn die Aktivistinnen und Aktivisten gegen Hass, Hetze und Desinformation vergleichbare Netzwerke bilden würden. Sowohl Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen. So könnten Expertisen, Man-/Women-Power, Zugang zu unterschiedlichen Szenen gebündelt werden und deutlich kraftvoller agieren. Leider sehe ich dazu bislang keine Ansätze. Von Regierungsseite gibt es gesetzliche Beschränkungen, weshalb in einer Demokratie vieles nicht so einfach machbar ist. Auf Aktivist:innenseite scheitert es meines Erachtens zu oft am Drang zur Selbstdarstellung. Leider.
Julia Ebner spricht in Massenradikalisierungen weitere Punkte an beziehungsweise holt Meinungen dazu von Fachleuten ein. Denn wenn die Radikalisierung in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, greifen die alten Mechanismen nicht mehr.
Die Schwächsten besser auffangen
Ein Lösungsansatz ist in meinen Augen besonders wichtig: Wir müssen diejenigen besonders auffangen, die mit den schnellen (notwendigen) Veränderungen und Krisen nicht klar kommen. Vor allem deshalb, weil sie dadurch unmittelbar in ihrer Existenz bedroht sind. So sehr ich die diversen Unterstützungsprogramme in den letzten Monaten zu schätzen weiß, ich wäre auch ohne sie klar gekommen und hätte es vorgezogen, dass sie stärker dem Einkommen angepasst werden. Aber ich weiß auch, dass das nicht auf die Schnelle möglich gewesen wäre. Unter anderem wegen unseres Datenschutzes.
Klare Grenzen ziehen
Vor allem Politikerinnen oder überhaupt Frauen, die in der Öffentlichkeit stehen, werden systematisch mit Hasskampagnen überzogen. Ob auf Social Media, per E-Mail, Telefon oder sogar Post erreichen sie tagtäglich unzählige diffamierende und beleidigende Kommentare. Meist sind sie nur am Rande gegen ihre Arbeit gerichtet, sondern zielen ganz konkret auf ihr Äußeres, ihren Bildungshintergrund, ihren Lebensstil ab. Im Zentrum der Hass-Gemeinde steht beispielsweise Riccarda Lang von den Grünen. Oder Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die inzwischen sehr konsequent alles anzeigt, was strafrechtlich relevant ist. Bis zu 250 Anzeigen stellt sie pro Monat. Und wer sich dann, nachdem er oder sie Post von der Staatsanwaltschaft bekommen hat, bei ihr meldet, dass das doch nicht ernst gemeint sei, hat Pech gehabt. Zu Recht. Wir müssen vermitteln, dass das Netz kein rechtsfreier Raum ist, auch wenn die Strippenzieher, also Kopf und Körper des Organismus, das ihrer Gefolgschaft vermitteln wollen um ihre Agenda durchzusetzen.
Medienkompetenz lehren
Und wir müssen endlich Medienkompetenz lehren. Dringend. Vor allem bei den digitalen Migranten. Zu viele glauben kritiklos jedes aus dem Zusammenhang gerissene Statement und sind nicht in der Lage, den Kontext selbst zu recherchieren. Mehr Menschen müssen lernen, die Standardmerkmale für Verschwörungsnarrative zu erkennen.
Die Sprache zurückerobern
Dazu gehört auch, den Extremist:innen unsere Sprache nicht zu überlassen. So oft lese ich, dass man etwas nicht mehr sagen dürfe. Nicht nur von den Extremisten selbst, die sich damit als Opfer gerieren. Auch von der demokratischen Mitte, die ernsthaft überlegt, ob sie Wörter noch nutzen können, die durch die extremen Ränder “vereinnahmt” wurden. Das geht übrigens nahtlos in den Punkt Medienkompetenz über. Um solche Dinge muss ich mir nämlich keine Gedanken machen, wenn ich den Kontext beachte.
Pflichtlektüre für alle, die politisch aktiv sind
Ich könnte noch unendlich viel mehr schreiben. Julia Ebners Massenradikalisierungen hat mich so nachhaltig beeindruckt, dass ich mir auch den Vorgänger Radikalisierungsmaschinen besorgt habe. Selten habe ich so kluge, gut lesbare Bücher in der Hand gehabt. Wissenschaftlich fundiert und gleichzeitig spannend wie ein Thriller.
Wer immer noch glaubt, dass sich “die paar Verirrten” schon wieder beruhigen werden, wenn die gesellschaftliche Lage ruhiger wird, handelt grob fahrlässig. Erstens werden die Zeiten so schnell nicht ruhiger werden, dafür sorgt die Klimaerwärmung. Und zweites sind nicht “die paar Verirrten” das Problem, sondern diejenigen, die hochprofessionell alles daran setzen, weltweit Demokratien zu unterwandern und zu zerstören. In meinen Augen ist es auch wichtig, zumindest näherungsweise zu überblicken, was für eine unfassbar toxische Mischung sich da “gefunden” hat. Radikal, menschenverachtend und weitgehend hemmungslos.
Für mich sind beide Bücher eine Pflichtlektüre für alle, die politische und gesellschaftliche Verantwortung tragen. Und natürlich für alle, die verstehen wollen, was es mit dem Hass und der gezielten Hetze auf sich hat.
Julia Ebner
Julia Ebner, geboren 1991 in Wien, forscht am Institute for Strategic Dialogue in London sowie am Centre for the Study of Social Cohesion an der Universität von Oxford zu Extremismus. Als Expertin arbeitet sie mit Regierungsorganisationen und Polizeiorganen zusammen, berät UN, NATO und die Weltbank in Fragen des Extremismus. Der Öffentlichkeit ist sie durch Auftritte bei Markus Lanz, den Tagesthemen und dem heute-journal bekannt. Ihr Buch Radikalisierungsmaschinen wurde 2020 als »Wissenschaftsbuch des Jahres« ausgezeichnet, war SPIEGEL-Bestseller und stand auf der Sachbuch-Bestenliste.
Buchinfo: Massenradikalisierung von Julia Ebner, erschienen bei Suhrkamp Nova, 13.03.2023, 360 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-518-47314-6, € 20,00. Radikalisierungsmaschinen von Julia Ebner, erschienen bei Suhrkamp Nova, 2019, 356 Seiten, Broschur, ISBN 978-3-518-47133-3, € 12,00
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