Köln 1955. Die 15-jährige Helga und ihr Bruder Jürgen sind auf dem Weg von Frankreich nach Köln zu ihrem Vater. Von ihrer Mutter fehlt seit dem Krieg jede Spur. Alles sieht nach einem gelungenen Neustart aus, bis Helga ein Praktikum in einem Waisenhaus beginnt.

1945 – der Krieg ist endlich vorbei. Doch Köln, die Heimat der Geschwister Helga und Jürgen, liegt in Trümmern. Gemeinsam mit anderen, durch den Krieg elternlos gewordenen Kindern, schlagen sie sich durch. Sie hausen in verlassenen Kellern und Bunkern, betteln und stehlen sich ihren Lebensunterhalt zusammen, leiden still vor sich hin. Keines von ihnen weiß, ob sie noch Mutter oder Vater haben und ob sie sie je wiedersehen werden.
An einem sonnigen Tag hält ein kleiner Lastwagen vor dem Bunker, in dem Helga und Jürgen die letzten Monate mit ihrer Mutter und ihrer Tante verbracht haben, ehe beide verschwunden sind. Claire und Albert, ein französisches Paar, nimmt Kontakt zu den Kindern auf, kümmert sich um sie und schmuggelt sie schließlich auf dem Lastwagen – versteckt unter Decken – an den Besatzern vorbei über die Grenze nach Frankreich. Für Helga, Jürgen und einige ihrer Freunde beginnt ein neues Leben.
Beide kümmern sich liebevoll um die verstörten Kinder, die auf ihrem Weingut schnell heimisch werden, die Sprache lernen. Auch in der Schule kommen sie gut zurecht. Alles läuft in ruhigen Bahnen bis kurz vor Weihnachten 1954 ein Brief aus Deutschland eintrifft. Helgas und Jürgens Vater ist nach langen Jahren in russischer Kriegsgefangenschaft zurück in Köln. Über den Suchdienst des Roten Kreuzes hat er die Adresse der Kinder in Frankreich ausfindig gemacht. Und er möchte, dass sie zu ihm zurückkommen.
Für Helga stürzt eine Welt zusammen. Natürlich möchte sie ihn kennenlernen. Ihr Vater ist neben Jürgen das einzige, was ihr von ihrer Familie geblieben ist. Aber sie liebt auch Tante Claire und Onkel Albert, die sie so vorbehaltlos aufgenommen und wie ihre eigenen Kinder behandelt haben. Liebevoll überzeugt Claire das junge Mädchen, dass sie loslassen muss. Und dass sie immer zurückkommen kann, wenn sie in Köln nicht glücklich wird.
Ein bezauberndes Buch
So traurig die Geschichte um die junge Helga auch ist, so bezaubernd fand ich dieses Buch. Es bewegt mich immer wieder, zu lesen, was Kinder meiner Elterngeneration durch den Krieg haben durchmachen müssen. Und wie böse man vor allem den Mädchen mitgespielt hat, als der Krieg vorbei war. Während des Krieges waren sie gut genug zum Steine schleppen, Essen organisieren, arbeiten in den Fabriken. Doch kaum war der Krieg vorbei, war es wieder vorbei mit diesen “Freiheiten”.
Helga träumte von einer Karriere als Journalistin oder Autorin, doch der Vater verbietet es. Sie möchte aufs Gymnasium und wird in der Haushaltungsschule angemeldet. Sie möchte schreiben und muss zum Praktikum ins Waisenhaus. Ausgerechnet ins Waisenhaus. Wo sie selbst doch lange Jahre dachte, durch den Krieg zur Waisen geworden zu sein. Es verblüfft mich immer wieder, wie wenig Zeit erst vergangen ist, seit Frauen die Unterschrift eines Mannes brauchten, um einen Beruf ergreifen zu dürfen. Nicht frei über ihr Leben bestimmen durften.
Meist macht mich das wirklich wütend, aber Lilly Bernstein hat die Geschichte um Helga und Jürgen so liebevoll geschrieben, so ganz ohne erhobenen Zeigefinger, dass es einfach nur ein Vergnügen war, dieses Buch zu lesen. Begonnen habe ich am verregneten Freitag und – was soll ich sagen – das Wochenende war umgehend verplant. Ich bin in das Köln der Wirtschaftswunderzeit eingetaucht und erst wieder aufgetaucht, als ich die letzte Seite von Lilly Bernsteins Findelmädchen umgeblättert hatte.
Ich lege Findelmädchen allen ans Herz, die sich für die Nachkriegszeit interessieren und auch dafür, was Kriege alles für lange lange Zeit zerstören.
Lilly Bernstein
Lilly Bernstein ist das Pseudonym der Kölner Journalistin und Autorin Lioba Werrelmann, deren Debütroman Hinterhaus 2020 mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet wurde. Ihr letzter Roman, Trümmermädchen, war ein großer Presse- und Publikumserfolg. Mit Findelmädchen erzählt sie die Geschichte der Trümmerkinder weiter.
Buchinfo: Findelmädchen von Lilly Bernstein, erschienen bei Ullstein, 28. Juli 2022, 595 Seiten, Taschenbuch, € 11,99, ISBN 978-3-548-06568-7. Danke für das Leseexemplar.
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